9. Juli 2010

Die Heimkehrerin

Die Heimkehrerin


hat all ihren Schmuck vergessen. Nackt ist ihr Hals, den ein seiden-gemusterter Schal ziert. Sie trägt eine Jacke, die sie seit Jahren nicht getragen hat. Eine Freundin sagte, sie sähe aus, als hätte sie sie von ihrem großen Bruder geliehen.
Heute ist sie so groß, wie es ihr großer Bruder damals war. Und sieht doch immer noch verloren darin aus.
Der Busfahrer fragt die Heimkehrerin, wie alt sie ist. Sie zögert und ist irritiert. Einerseits, weil sie nicht genau weiß, warum er das fragt, andererseits, weil sie sich diese „20“, die da aus ihrem Mund heraus hüpft, in diesem Moment selbst nicht glaubt. (Der Busfahrer fragt, weil der Kinderpreis für Kinder bis 15 Jahre gilt).
Die Heimkehrerin geht vorbei
an der Änderungsschneiderei,
die nur bis 12:30 geöffnet hat,
außer montags und freitags.
Spaziert durch die Altstadt, die ihr nun so winzig erscheint, so winzig, dass sie den Eindruck hat, gleich würde jemand den Deckel des Schuhkartons öffnen und sie endlich wieder die Weiten der richtigen Stadt sehen lassen.
Sie geht den Berg hinauf,
zu der Bibliothek,
für die sie keinen Ausweis mehr besitzt.
Nachmittage
auf der Bank
unterm Herbstlaub.
Französische, skandinavische und deutsche Filme vorm verschneiten Fenster.
Für 25 Euro
im Jahr.
Sie geht in eine Drogerie und riecht an all den künstlichen Düften. Ihr Geruchssinn ist nicht der Beste und so kann sie kaum unterscheiden zwischen all den angeblich blumigen, nussigen, moschusartigen Nasenkitzlern mit den unterschiedlichen, aber doch immer gleichen Namen.
Style
Inspire
Pure Woman
Flower.
Sie besitzt drei Parfums. Für sie riecht eines edel, eines frisch und eines etwas männlich. Das ist für sie mehr als genug. Ersteres benutzt sie zum Ausgehen, zweiteres an optimistisch stimmenden Sonnentagen und letzteres, wenn sie beruflich ernst genommen werden will. Was für Stimmungen in ihrem Leben gibt es denn noch? Sie riecht an jedem Duft. Viele riechen sehr gediegen, damenhaft, auf keinen Fall nach ihr. Viele riechen auch ganz frisch. Doch ein Frisches hat sie ja schon. So viel Frische braucht kein Mensch.
Sie nimmt letztendlich eins mit einer roten Verpackung, das leicht nuttig riecht. Nuttig ist gut, das hat sie noch nicht.
Die Heimkehrerin schreibt. Sie schreibt in ihrem Lieblingscafe`, in dem sie immer geschrieben hat, wenn sie dort nicht ihre Freunde traf. (Die Freunde sind alle fort.)
Wenigstens etwas Ruhe und Schönheit ist geblieben. Edle Einfalt, stille Größe.
Sie kichert.
Sie hatte sich nach Ruhe, Natur und Geborgenheit gesehnt. Doch was soll sie nun damit anfangen?

Sie selbst ist nicht mehr ruhig
sie hat keine Ruhe mehr in sich
wo soll sie denn herkommen, diese Ruhe?
Hat keine Ruhe in sich
Überhaupt keine Ruhe
ist so unruhig
ist so beunruhigt
ist nicht beruhigt
will sich nicht beruhigen.

Sie selbst ist nicht mehr natürlich
will keine Natur
ist so unnatürlich
Natürlich geworden.
Sie braucht keine Geborgenheit
fühlt sich nicht geborgen
ist eine Seemannsbraut.

Sie lacht.
Auf zu neuen Ufern.
Die Heimkehrerin fährt heim. Sie kennt das, diese Tür, die muss sie immer leicht ran ziehen, um sie öffnen zu können. Sie tritt ein. Hier hat sie immer telefoniert, damals, als sie noch kein schnurloses Telefon hatten, was war das ihr dann peinlich, wenn sie Jungsgeschichten erzählte, mit 13, im Nachthemd, mit Snoopy darauf.
Die Heimkehrerin fühlt sich nicht mehr wohl, in ihrem Zimmer, es ist so schlauchförmig und
vor
dem quadratischen Schreibtisch
da
steht eine
Wand,
die hält
ihre Gedanken auf.
Lässt sie abprallen
und sich vor Schmerz taumelnd
im Kreis drehen.
Die Heimkehrerin
hat ihren Schmuck vergessen.
Nackt ist ihr Hals, den ein Rollkragen ziert.

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