9. Juli 2010

Und Veronika beschließt zu sterben.

Bevor Sie den nachfolgenden Text lesen, meine Damen und Herren möchte ich, dass Sie dabei immer im Kopf behalten, dass Montag ist, und zwar ein Montag im Januar. Dass ich heute noch keine Zigarette hatte. Unter einem durch Blockseminar fehlendem Wochenende und Schlafmangel leide. Und dass ich nach wie vor finde, dass "Veronika beschließt zu sterben" ein sehr schönes Buch ist.
Komisch, so ein Montag, an dem man auf Paulo Coelho und die "Declaration of Human Rights" trifft. Und das in einer Filliale einer Ladenkette für hippe Großstadtfrauen zwischen 18 und 38, denen H&M irgendwie zu piefig und fairliebt zu teuer ist. Es war der Ärger über Unzulänglichkeiten, ein schlechtes Gewissen und Inkompetenz- übrigens alles von fremder und meiner Seite her- der mich durch die Straßen in der Nähe des Bahnhofs Zoo streifen ließ. Auf der Suche nach erlösendem und entspannendem Kaffee. Und tatsächlich lockten mich dabei ein paar alberne, reduzierte Kleider in verschiedenen Farben in den mango-shop. Die Kleider finde ich erst gar nicht, denn in durch Unzufriedenheit des Körpers und der Seele motiviertem Wahn habe ich schnell 5 T-Shirts überm Arm hängen. Auf dem Weg zu den im oberen Stockwerk gelegenen Umkleidekabinen entdecke ich Paulo Coelhos Fratze. Ja, der Paulo Coelho, der pseudospirituelle Bestsellerautor, den ich mit 15 glühend verehrte, inzwischen aber für einen allzu kitschigen Aphorismendichter halte, der auch vor allem das genau kann: 15- jährigen Mädchen durch eine Mystik irgendwo zwischen in oberfränkischen Kleinstädten aktiver christlicher Jugendfreikirche und Brigitte-Wellness Glauben machen, denken und fühlen gelernt zu haben. Das dies eine reine Illusion ist, werden sie wohl erst mit Anfang 20 schmerzhaft fest stellen. Das Konterfei, das genau auf diesem Foto in sämtlichen Schutzumschlägen seiner Bücher zu finden war, lächelt hier im Laden zwischen englischen Aphorismen über Verantwortung und Menschenrechte vor dem Hintergrund einer wolkigen Scientology-Ästhetik. Auf einem der reduzierten T-Shirts steht die "Declaration of Human Rights" auf anarchisch geklecksten Fakefarbspritzern gedruckt. Ich schleiche mich verstört in die Kabine. Hier stelle ich fest, dass das Licht derart beschaffen ist, dass mein Gegenüber im Spiegel auf seinem Haar äußerst uncharmant alle Färbe- und damit auch Seelenversuche des letzten Jahres abbildet. Das vertraut-versöhnliche Mokkabraun des vergangenen Frühlings lässt einen alptraumhaften Mahagonischimmer übrig, während daneben Reste des hoffnungsvoll-melancholisch-hoffnungslosen Lilas des Septembers das nachwachsende Naturhaar aschgrau erscheinen lassen. Es machte mich ebenso überschwänglich mit Hautunreinheiten bekannt, von deren Existenz ich bis jetzt nicht die leiseste Ahnung hatte. Nicht mehr wütend, aber traurig, humple ich im Bewusstsein, gestreift und gepunktet zu sein, aus der Kabine. "Kommt was zurück bei dir?" fragt mich das Kabinenmädchen so freudenstrahlend, als wäre ich ein Rassehündchen, dem sie gerade einen Preis auf einer Zuchtausstellung überreichen darf. Als ich stammle: "Ja, alles.", meine ich es auch so. Denn ich würde gern komplett alles zurückgeben in dieser absurden Welt aus rosa Mangofashion, Paulo Coelho und der "Declaration of Human Rights", inklusive Herz, der manipulativen Pottsau und Magen, dem unheilvollen Seelenindikator. Leider nimmt mir die gute nur die behangenen Kleiderbügel ab, als ich ihr noch mein Herz in der angewidert am langen Arm ausgestreckten Hand dazu reichen möchte, hat sie sich schon abgewandt und es ist mir unangenehm, zu fragen, ob sie es nun denn nicht auch nehmen und auf einen Kleiderbügel spießen möchte, auf dass es hier, zwischen fashionabler Weltverbesserei und Poesie, seinen Platz findet. Deshalb packe ich das Herz in die hintere Hosentasche, so wie alte Säcke ihre Geldbeutel da reinstopfen.
Immer noch karoblusenärmelig stelle ich 10 Minuten später fest, dass das Geld in Kaffees und Donuts tatsächlich weitaus besser investiert war. Das Herz drückt mir unangenehm warm und sinnlos in den Hintern.
Nougat-Vanille-Creme-Donut- Hautunreinheiten, ihr lieben, herzlich willkommen, freundet euch lieber mit mir an, wir werden ein langes Leben voller ästhetischer und politischer Unschönheiten zusammen gestalten. Komisch, so ein Montag, in dem man auf Paulo Coelho und die "Declaration auf Human Rights" trifft.

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