11. Oktober 2010

Mit dem Brotmesser Grapefruit schneiden

Wer das Glück oder Unglück hatte, schon einmal näher mit mir in Kontakt getreten zu sein, weiß, dass die Übersprunghandlung meine bevorzugte Art der Aktion ist. Kann allerdings sein, dass wer es weiß, ohne zu wissen, was eine Übersprunghandlung ist. Es gehört wohl zu den schönsten Erinnerungen meiner Schulzeit, wenn ich daran denke, wie mein Kollegstufenbiolehrer es anhand eines Beispieles aus dem Tierreich erklärte: Ein Schimpanse im Zoo streitet sich mit einem anderen Männchen. Als der Gegner erneut angreift, greift er sich eine Banane und isst diese genüsslich. Weniger beherzt .
Übertriebenes Haare spielen, Rauchen, Trinken, Rennen, Rad fahren, Küssen in Situationen der Abscheu, Nervosität, Langeweile oder Lethargie sind die einfachen Auswüchse, die mich kaum noch überraschen. Wird es allerdings etwas komplexer, finde ich das selbst in Relation zu meiner Person noch etwas wired. Mir fällt da dieser Sommertag 2009 ein, als ich Tempelhof besetzen wollte und mich plötzlich lesend am Schlachtensee wieder fand. Allerdings ist dies ja gerade noch mit Funny Van Dannens Verliedung des Themas in einer Liga: "Ich wollte eigentlich ins Kino gehen// In "Bowling for Columbine"// Aber etwas in mir sagte lass es, das muss heute nicht mehr sein//Den kannst du dir immer noch anschaun morgen oder irgendwann//Aber heute bleibst du zuhause und schmeißt die Nebelmaschine an" (Nebelmaschine).
Doch heute entwickelte es irgendwie den Gipfel an Übersprünglichkeit. Eigens um einen Film im Rahmen einer Aktion des "Zentrums für politische Schönheit" zu sehen suchte ich begleitungslos das Filmcafé in der Schliemannstraße auf. Mein Debüt dort erlebend, fand ich mich nicht gleich zurecht, hatte aber Hunger. So setzte ich mich erst einmal willkürlich an einen Tisch und bestellte das einzige vegetarische Gericht auf der Karte: Veggieburger. Dieser entpuppte sich als in Burgerbrötchen und den üblichen Beigaben gekleideter Halloumi. Diese Ungeheurlichkeit wurde jedoch durch die reichhaltigen Beilagen in Form von Country Potatoes und zweierlei Arten Salat etwas entschädigt. Just als der Teller fast-foodig anbiedernd vor mir stand, entnahm ich mitgästlichem Geflüstere und Geraune Erkundigungen nach dem Ort der von mir zu besuchend geplanten Veranstaltung. Downstairs Kino. Alles klar. Rasch aufessen, dann runter gehen. Neben mir erscheint plötzlich die "Tagesschau" auf der Leinwand und die Anwesenheit sich genüsslich in Richtung Bildübertragung zurechtrückender Bluse-unter-Pulli Damen lässt mich vermuten, dass hier wohl alsbald ein "Tatort"guckhappening beginnen wird. Noch bin ich aber fest entschlossen, meinen sehungünstigen Platz beizubehalten und Betrachtungsgegenstand des Abends den seit langem anvisierten, ortswechselerforderlichen sein zu lassen. Nun ja, was soll ich sagen, man kann nun mutmaßen, war es Bequemlichkeit? Durch den seltenen Genuss von Kartoffeln hervorgerufene Mangelerscheinungen zweijährigen Familien- und Fernsehentzugs? War es Johnny Cashs "Country Boy" oder Jan Josef Liefers catchy Gummistiefelwitz? 15 Minuten später habe ich jedenfalls meinen Allerwertesten auf dem Stuhl gegenüber, meinen Rücken an der Wand und Augen und Ohren offen für den Münsteraner "Tatort". Bis zum unvorhersehbaren Verlegenheitsende. Mehr verblüfft als beschämt zahle ich und gehe in die vorhersehbare genial-kalt-gute Oktoberluft. Zuhause möchte ich aufgrund der Wahrnehmung der Ankündigung eines Schnupfens eine Grapefruit essen und habe plötzlich den Rest meiner vegetarischen Paella in einer Schüssel auf dem Schoß.
Ausnahmsweise war dies nun vielleicht nicht eine mir als human animal par excellence typische Verhaltensweise, sondern schlicht Erschöpfung. Es war nun einmal ein buntes Wochenende. Das mit dem Konzert und Gespräch mit Roman Fischer im Rosis begann, der mir Kopfzerbrechen ob der Möglichkeit der Existenz einer Dorian Grey- Gestalt bereitete. Nicht nur, dass er die Schönheit in Gestalt eines makellosen Jünglings verkörpert, nein, er scheint sie auch nicht durch übermäßige Intelligenz zu entstellen und ich bin mir sicher, dass er ein Porträt besitzt, dass an seiner statt altert. Nur so lässt sich erklären, dass er, obwohl nun doch schon seit 2004 ein Begriff in der Indie-Achse Augsburg-Berlin, das Aussehen eines 20-jährigen besitzt. Dieses Kopfzerbrechen mit niedrigem Blutdruck und trägem Herzen wegtanzend, findet man beinahe schlafend nach Hause, um nach ein paar Stunden Bettlage den erneut wunderschönen Oktobertag mit einer Radtour entlang das Charlottenburger Ufers, an dem sich jeder Herbst an Glanz und Magie zu übertreffen sucht und meiner ersten vegetarischen Paella zu feiern. Das Intersoup verschluckt mich her nach wieder mit alten Bekannten und neuen Musisländern für ein paar Stunden zuviel, so dass ich erneut schlafdefizitär zur "Silent Climate Parade" fahre. Letzere war wohl mein bisheriges Highlight der Berliner Herbste. Noch nie war Techno erträglicher, noch nie war es schöner zu tanzen, zu lachen und zu demonstrieren, denn die Sonne scheinte, die Lautstärke war über den Kopfhörer regelbar, die Touristen interessiert. Wohl die Demo mit der höchsten Stylofrequenz, die ich je besuchte, dafür aber auch die friedlichste, effektivste in der Erregung der unmittelbaren öffentlichen Aufmerksamkeit und nicht zuletzt, genussvollste.
Auf der Bahnfahrt nach Hause wünschte ich mir ein paar schöne E-Mails zu lesen, wenn ich zurückkehrte. Merkwürdigerweise erfüllte sich dieser Wunsch in der Einladung zu gleich mehreren interessanten Projekten. Zaghaft darf ich mich trauen, ein "Ja" hinter mein Leben zu stellen. Es ist ja noch immer kein enthusiastisches "Jawoll", aber eben auch kein Nein.

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