7. September 2010

Entwachsen

Entwachsen kann man so einigem. Beziehungen, Lieblings-T-Shirts (ein Freund wies mich neulich daraufhin, dass ich so gerne bauchfrei trüge, das sei ja eher ein bisschen 90iger), gar der eigenen Subkultur, wie ich in letzer Zeit schmerzhaft feststellte (weil sie im Laufe meines Wachstums zur Popkultur wurde, und zwar einer ganz schön langweiligen und verwässerten), Nagellackfarben und Fahrradfahrgewohnheiten. An gefährlichen Straßen darf ich nämlich mangels eines Radweges nicht mehr auf dem Bürgersteig fahren, bei dem ich dachte, er sei für mich da, ob mit oder ohne Rad. Nein, das ist jetzt eine Ordnungswidrigkeit. So als erwachsene Bürgerin geht das nicht mehr. Ommis aufm Kuhdamm erschrecken, das darf ebensowenig sein wie roter Nagellack und nackte Wampe. Etwas zum Läuten brauche ich auch dringend, "denn bei meinem zarten Organ könne es sein, dass ich nicht laut genug schreie." Und wie ich schreien kann! Aber ausnahmsweise lasse ich die Demonstration mal weg. Denn ich bin ja völlig gesunde Bürgerin, kein hysterisches Weib. Ich möchte schließlich wenigstens radschiebenderweise dem Untergrund würdig sein. Dabei dachte ich, ich wär so gut verkleidet mit Absatzstiefeln und Strickjacke. Aber der rote Schal fiel wohl auf.
Zum Glück gibt es neben der bürgerlichen noch meine private Realität und Identität, in der ich in einem kleinen Schwarzen mit weißer Perlenkette auf einer Zigarettenspitze rauche, den zornrotgeflammten Gedankenkater auf der Schulter. Da schlafe ich dank Schlafbrille den ganzen Tag und wache erst auf, wenn mein Schriftstellernachbar klingelt und bringe dann auch gleich den Wetterbericht nach Sing-Sing.
"Unser Status wird durch das solide Bauwerk unseres Milieus getragen, doch unser Gefühl der persönlichen Identität steckt häufig gerade in den Brüchen."
The one and only Versteher einer interagierenden Gesellschaft- Erving Goffmann.
Und Max Goldt schrieb schon in gewohnt leiser Qualität, früh zeige sich, wer das Talent zur grotesken Dame in Charlottenburg habe.

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