7. November 2010

Warum Adorno gar nicht kryptisch schreibt.

Ich hab mal eine Wahrsagerin gesehen. Es war ein Sommerabend 2009, und es war auf diesem komischen Rummel in Hamburg, DOM, im Halbdunkel. Wir, mein Bruder und ich, liefen nur über den Rummelplatz, damit ich eine der letzten Zuckerwatten kaufen konnte und weil es eine Abkürzung war. Es gab eine recht gruselige Atmosphäre, denn die Schausteller waren schon am Abbauen, niemand hatte mehr Interesse an einem Fahrgeschäft und man hörte nur noch die Geräusche von klirrendem Geld und leise verhallenden Schritten. Ich konnte in einen Wagen sehen, in dem man sich tagsüber die Zukunft voraussagen lassen konnte; darin saß eine alte, faltige Frau mit stechend blauen Augen. Urplötzlich glaubte ich ihr, dass sie die Zukunft voraussagen konnte und ärgerte mich, dass ich so spät gekommen war.
In Wirklichkeit glaubte ich das natürlich nicht, sondern es war eine kleine Anwandlung an einem Sommerabend, in dieser seltsamen Magie, in der einem ganz anders wird und dann ist es Herbst und man lacht, wie dumm man gewesen ist.
Gestern dachte ich erneut, ich hätte eine Wahrsagerin gesehen. Sie war diesmal kaum älter als ich, hatte ein breites Grinsen, silberne, riesige Ohrringe und braunes, von einem gesunden Lebensstil zeugendes Haar.
"Studierst du Soziologie?" fragte sie, ohne jemals ein Wort mit mir gewechselt zu haben. Aber natürlich klärte sich auch das auf: Sie hatte gehört, dass ich die Worte "Heteronormativität" und "polyamorös" verwendet hatte. Freilich haben diese Worte soviel mit Soziologie zu tun wie Astrologie mit Wissenschaft, allerdings verstand ich ihre Assoziation sofort, wenn ich an meine fremdwortverliebten Kommilitonen dachte und war peinlich berührt.
Ich war etwas betrunken während der Unterhaltung; aber ich weiß, dass sie mir riet, immer fleißig weiterzuschreiben, und ich fragte, als sie schon im Türrahmen stand, mit was sie denn gern weiter machen möchte: "Malen und Saxophon spielen" rief sie, lächelte ein bisschen verschroben und irgendwie hielt ich sie zum Schluss dann doch noch für eine Wahr-Sagerin.
Als ich fleißig weiter schrieb, fragte mich ein Kommilitone, welchen Zweck ich damit verfolgte, ein Reimwort zu verwenden, dass er erst nachschlagen müsse. Ich las das Gedicht, welches die Verwirrung in ihm ausgelöst hatte, fünf mal, es besteht nämlich nur aus 12 Worten, von denen 11 absolut nicht zum Nichtverständnis in Frage kommen, bis ich auf die Idee kam, dass er wohl "Grind" meinen musste. Dieses verwende ich allerdings so selbstverständlich, dass ich selbstverständlich gar keinen Zweck verfolgte, sondern mal wieder nur ein Inneres ausgekotzt hatte. Ein "Grind" ist eine verkrustete Wunde, und kann sich jemand ein Gedicht vorstellen, in dem "verkrustete Wunde" vorkommt? Ja, gut natürlich kann sich das jemand. Aber ich möchte "Grind" schreiben und "butzeln" und "Mutzel" und "Trumm" und auch mal "Heteronormativität" und "Identitätsfeminismus", weil das die Sprache ist, mit der sich meine Denkmuster ausdrücken. Vielleicht sollten wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Kommunikation einfach und selbstverständlich ist und Nachfragen peinlich. Sogar vor SoziologInnen.

1 Kommentar:

  1. Ja, man muss da einen Mittelweg finden zwischen Lessings "Nachtigall und die Lerche" und Laotse: Nennt das Eckige eckig und das Runde rund, so eine Art schmaler Grad zwischen Fachchinesich und Geschwätz und umgekehrt.
    Genau.

    Ciao,

    Andreas

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