Sie war in mich verliebt. Sie hat mir in die Wange gebissen, sie sagte, sie hätte das aus Liebe getan, und dann ist sie weggelaufen und hat lange kein Wort mehr mit mir gesprochen. Sie heißt Anne-Sophie*.
Dieser Akt der Eifersucht geschah vor 20 Jahren, und das hübsche, dunkelhaarige Mädchen, das als einzige im Kindergarten schon Lackschuhe, Nagellack und Lippenstift trug, wusste vielleicht nicht (aber wer weiß das schon?), welchen bleibenden Eindruck und welch düsteren Fluch sie mit ihrer Tat in meinem Leben hinterlassen würde. So wie ich damals nicht gewusst hatte, dass auch die letzten Milchzähne noch weh tun können, und wie man seinen Eltern erklärt, warum man eine angeschwollene Backe hat, ohne auch im Rest des Gesichts rot zu werden, und dass man instinktiv entscheidende Details weglassen muss (Liebe, bei der ich mir nicht sicher war, ob ich sie erwiderte), und eigentlich viel sorgenerregendere dazuerfinden (Streit, Aggressivität) so hatte ich vor drei Monaten nicht gewusst, dass ich in einem polnischen, großstädtischen Hinterhof zwar zwei paar Schuhe, einen schweren Mantel, einen Haufen geregelten Papierkram und letzte Adoleszenswirren ablegen konnte, aber trotzdem mit drei Taschen Gepäck und 24 Jahren auf dem Buckel wieder zurück in mein Berliner WG-Zimmer ziehen musste.
So hatte ich vor 2einhalb Jahren nicht gewusst, dass es zwar das Ende einer Ära der romantischen Pubertät bedeutete, als ich am Ufer des Charlottenburger Kanals einen Bloody Mary nach dem anderen trank und heulte, dies aber gerade mal den Beginn meiner ganz persönlichen Aufklärung markierte.
Als ich vor 10 Monaten beschloss, den seit vier Jahren in mir gereiften Entschluss, eine Weile in Polen zu leben, mit einem Aufenthalt in Krakau in die Tat umzusetzen, hatte ich nicht geahnt, dass dies zu einer der schönsten Zeiten meines Lebens werden könnte, aber auch nicht, dass ich drei Nächte davon heulend im Bett verbringen würde, fest entschlossen, nie wieder eine Zeile zu schreiben. Hätte ich damals doch gewusst, dass ein Gedanke an Anne-Sophie mir den düsteren Rhythmus zu meinem aggressiven Schreibmaschinenesken Tastaturgeklapper immer wieder bieten würde, weil ich seit damals gar nicht anders kann. Als permanent zu kämpfen, und dabei sei zu beachten, dass ich mich durchaus im ökonomischen Kapital familiär in der halb-akademischen Mittelschicht verorten kann. Kulturell aber nicht. Und eben auch nur halb, zu Gunsten der männlichen Seite.
Ich bin eine Frau von 24 Jahren, und sitze des öfteren Männern gegenüber, die genau solche Ansichten in mein Gesicht lachen. Es ist eine Generation der 1978 bis 1983 geborenen männlichen Mitmenschen, um es mal grob zu fassen. Und genau aus diesem Grund lasse ich mich nicht mit dem Hinweis auf Satire vertrösten. Ihr denkt das doch wirklich, Leute. Verarscht euch doch nicht selbst. So wird jeder in der Pubertät erlebte Korb ein politischer Akt, mit dem sich das schlechte Gewissen, was vielleicht doch den ein oder anderen Sesselfurz hin und wieder etwas brennen lässt, schnell wütend zum Fenster der obersten Etage hinaus verflüchtigen können lassen kann. Und am besten dann noch eine Anti-feministische Cis-Gender zur Busen-Freundin, die wahnsinnig hübsch ist und wahnsinnig froh, eine Frau zu sein, weil ihr das schon so viele Vorteile verschafft hat. Vielleicht kannten sie aber auch mal einen Hans-Ullrich, eine Anne-Sophie, und haben einfach andere Schlüsse daraus gezogen, als ich. Vielleicht dient die Unterstreichung der eigenen Macht und die Rechtfertigung der Herrschaftsverhältnisse einem einfachen Verstande, zu ordnen, was zu schwierig zu begreifen ist. Und dann beißt man einfach mal zu, weil es so schwer ist zu ordnen, wenn sich da welche versammeln, und am Thron rütteln.
Man kann noch so boshaft auf den Verfall ab 25 hinweisen. Ich bleibe optimistisch. Vielleicht, weil ich vor vier Jahren schon meinen 20. einfach größer hätte feiern sollen. Keine Leistung als selbstverständlich hinnehmen, nur weil einem jeder einredet, es sei ganz einfach. Ich hatte damals das Abitur geschafft, nachdem mir 10 Jahre zuvor gesagt wurde, ich würde nicht aufs Gymnasium gehören, ich sei zu schlecht in Mathe. Ich habe habe vor einem halben Jahr einen Bachelor in Germanistik und Soziologie erworben, inklusive drei Teilen Statistik und freue mich trotzdem im Gedenken an meine Mathelehrerin immer noch mehr darüber, dass ich super im Kopf rechnen bin. In meiner Bachelorabschlussphase fragte mich auch so ein Dreißig-jähriger, warum ich so einen Kackbachelorschnitt habe, und dass es für mich mit einem Master schwer werden würde. Ich schrieb meine Abschlussarbeit wütend fertig, verbesserte meinen Schnitt, schickte fünf Masterbewerbungen an Unis ab und wurde an vieren genommen. Mein Lebenslauf sagt, dass ich immer überall und nirgends gewesen bin, aber auch, dass ich ziemlich viele Dinge kann. Dass ich eine Frau bin, hat mir bei all dem aber ganz sicher nie geholfen. In einer Schulklasse im musischen Gymnasium, in dem Frauen die Mehrheit bildeten, war ich nichts besonderes, ebenso wenig wie im Germanistikstudium, in dem mensch ohnehin nur eine zu prüfende Matrikelnummer war. Ich gucke besorgt zur 30 hin, aber bisher gings ja bergauf, trotz Leiden an den bestehenden Umständen, weil pink vor Wut sein zum Klettern und Abseilen auf-, zwischen-, und unter den Strukturen animiert.
Ich hatte keine Ahnung, was ich wollte, nur dass es weg von der provinziellen Enge war, und was ganz anderes. Denn was mir widerfahren ist: Ich bin dabei, der Mensch zu werden, der ich wohl schon immer mal werden sollte. Ich bin gespannt darauf, 30 zu sein. Und hoffe eigentlich, dass mir nie wieder eine/r in die Wange beißen wird, um sein Gefühl auszudrücken. Und bis dahin die Menschen verstummt sind, die uns nur sagen können, dass "wir" toll sind, wenn sie damit Ungleichheiten rechtfertigen können.
*Name von Autorin geändert.
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