24. Juli 2010

It's my Party

...and I'll cry if I want to
Cry if I want to, cry if I want to
You would cry too if it happened to you!
(Lesley Gore)

Dieses Zitat erzeugt eine Stimmung und wird der einzige offenkundige Ausdruck meiner Heartbrokeness in diesem Text sein. Andere Ereignisse zu beschreiben hat nun den Vorrang.
Es war nämlich gestern so eine Nacht. Nach der ich nach drei Stunden aufgewacht bin und dachte, was für eine Nacht. Und nicht wieder einschlafen konnte.
Ich bin gestern nach Friedland gefahren und habe ein paar Stunden lang vor einer Kasse gesessen. Denn es fand das "Friedlandtreffen" statt, eine Festivität, bei der sich das gleichnamige brandburgische Dorf stolz auf seinen Zusammenhalt zeigt und gleichzeitig den Zusammenhalt mit dem "Jenseits von Millionen" Festival, welches von jungen Indiefritzen, zum Großteil in Berlin wohnend, organisiert wird, feiert. Dies geschieht in einem sympathischen Benefizfestival, bei dem zunächst ein paar, größtenteil sehr junge, Lokalbands in völlig angemessenem Stolz ihr ebenfalls sehr junges Publikum erfreuen. "'Sickaboom' sind ganz großartig, ich hab mit zwei von denen grade Abi gemacht", erklärt mir später enthusiastisch ein sympathischer Junge. Ich habe keine Ahnung, wer Sickaboom waren, denn ich war sehr beschäftigt damit, Bändchen über fremde Arme zu ziehen (kann mir vielleicht jemand mal erklären, warum Menschen den Reflex haben, wenn man ihnen etwas über das Handgelenk ziehen möchte, alle Finger von der Hand zu spreizen?) und mir dabei gleichzeitig die Nummern für die Tombola zu merken, aber dieser Enthusiasmus scheint einfach wundervoll, und mir ist kein Ton negativ aufgefallen, als ich mich schuftend berieseln ließ.
Ich möchte nicht alles beschönigen. Es war ein großartiger Zusammenhalt zu spüren, ich finde es sehr schön, was in diesem Dorf auf die Beine gestellt wird. Dass es aber am späteren Abend außerhalb des Geländes zu Schlägereien kam, die einen solchen Hintergrund zu haben scheinen, der nicht nur auf "ein paar Minderjährige haben etwas zu viel getrunken" zu beschränken ist, macht mich traurig und wütend.
Kurz nachdem ich von diesen Vorfällen erfuhr, durfte ich Feierabend machen und mir "Anajo" ansehen, die nach "Mein Mio" spielten.
Ich kenne Anajo nun schon seit so vielen Jahren, aus der zehnten Klasse, in der alles begann. Und so kam es, als ich deren charmantes Augsburgerisch vernahm, dass ich tatsächlich, und das ist bei mir ja nun wirklich selten, eine Art von kleinem, stechendem Heimatgefühl spürte. Nein, nicht nach Bayern, sondern nach dieser Zeit, die ganz und gar nicht sorglos war, aber tatsächlich irgendwie unschuldiger.
Ich bin fast 22 Jahre alt und habe Anajo gestern das erste Mal live gesehen. Mit einem Mädchen, das ich ungefähr da kennen lernte, als ich auch Anajo kennen lernte. Es war so schön, aber auf eine ganz merkwürdige Weise. Wahrscheinlich ist Anajo mit 22 das erste Mal live sehen ein bisschen so, wie mit 20 das erste Mal zu küssen. Irgendwie schon sehr schön, dass es endlich mal passiert, und es hat dann wahrscheinlich auch eine Bedeutung, dass es in diesem Moment und genau mit diesem Menschen und genau zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort geschieht. Aber machen wir uns nichts vor: Wer mit 20 noch nie geküsst hat, der schafft das dann auch nicht mehr aus eigener Initiative. Also entscheiden dann doch die Umstände darüber, dass es letztendlich so wird, wie es wird. Und so kann man sich zunächst wohl nur in dieses Schicksal ergeben und damit glücklich sein, aber irgendwann wird man nochmal darüber nachdenken, ob das ganze denn wirklich diese Bedeutung verdient, wenn man es nicht selbst für nötig gehalten hat, diesen großen Moment zu veranlassen.
Anajo mit 22 zu sehen war für mich also unverzichtbar, auch wenn es im patschendem Regen geschah. Es mit der einen Freundin zu erleben, war auch sehr, sehr wichtig. Es hat Spaß gemacht. die Band verzaubert immer wieder, auch in neueren Songs mit einem sympathischen Blick auf unsympathische Sachen. Irgendwie trägt man ja selbst Seitenscheitel und spielt Indiepop, aber irgendwie hasst man auch Indiepop und Seitenscheitelträger. darum ist man etwas ungekämmter und peinlicher als der Rest, sieht so aus, als wolle man dazu gehören und schaffe es nicht. Manchmal finde ich sogar, dass Anajo etwas zwischen Sportfreunde Stiller und Tocotronic liegen, mit drückendem Hang zur unteren Seite, zu den treu-doofen Sportsfreunden. In bösen Momenten.
In guten finde ich sie einfach unheteronormativ, die Emanzipation der Herzen gender-trouble technisch ("Mädchenmusik", "Amsterdam-Mann"), beziehungs- und herzschmerzdefinierend ("Hommage", "Spätsommersonne", "Zähme den wilden Tiger in mir", "Vorhang auf"), freiheitspropagierend ("Villa am Strand", "Süßwasseraquarienfische") und bekenntnishaft zur eigenen, unkonventionellen, doch nicht unüblichen Irrheit ("Hilfe Elfe Fee", "Die Tränen sind immer noch meine") in enormen Schritten vorantreibend. Tolle, unkonventionelle Texte, musikalisch immer nah am Schlager, die Deckungsggleicheit vermeidend durch Oliver Gottwalds nöliger Stimme, mit dem süddeutschen Stigmatismus gespickt und dennoch nicht nervig.
Für mich jedenfalls, die sich mit den Texten auseinandersetzt und nostalgische Gefühle mit dieser Band verbindet.
Aber um zu meinem Vergleich zurückzukommen: Es wird wohl einen Grund gehabt haben, dass ich mir nie eine Anajokarte gekauft habe, nie auf ein Konzert gegangen bin, sie nicht zu meinen Lieblingsbands zähle. Ich mag sie sehr, sehr, sehr gerne und wohl habe ich einfach die Gunst der Gelegenheit genutzt, nach Friedland zu fahren und Anajo im Regen zu sehen und glücklich zu sein und das ist auch völlig o.k. und bedarf keiner näheren Betrachtung.
Eben so unverhofft und inkonsequent geplant, wie mit 20 geküsst zu werden.
Ich weiß nicht, ob dieser Vergleich eher schief als eben ist, denn ich weiß nicht, wie es ist mit 20 das erste Mal geküsst zu werden.
Wohl weiß ich, wie es ist, nach einem so euphorisierenden Konzert zu viert im Auto nach Berlin zu brausen, um nicht ins Bett, sondern zur Jenseits von Millionen Warm-Up Party in den halbfrisch nach Kreuzberg umgezogenen Magnet zu gehen. Die Fahrt war ein einziger Hit, genau wie das Hitradio der siebziger und achtziger, das wir ganz im Stil unserer Eltern angestellt haben und lauthals mitsungen, aus reiner Euphorie und Jugend. So sehr schön, dass wir auf dem Weg zum Club noch verstörte Blicke ernteten, die uns aber herzlich egal waren. Und mit herzlich meine ich in diesem Moment, dass es uns eben eine Herzensangelegenheit war "Without You" von "Bad Finger" zu gröhlen. Es machte einfach so traurig-glücklich, eine einzige Tragikkomödie.
Der neue Magnet ist nicht so unoriginell, wie mir berichtet wurde, er verfügt über eine ähnlich schöne Raucherterasse wie der alte und auch die Räumlichkeiten sind nicht zu groß und nicht zu klein. Die Musik war sehr durchwachsen. Gruseliges Grunge-Indie-Gemisch teilweise. Tolle New-Wave, Punk und Indierocksachen aus den Achtzigern und Neunzigern. Aber herausstechend war wirklich Schommsens DJ-Set, das ein hartes, doch keinesfalls seelenloses Elektrobrett lieferte, bei dem ich zunächst auf der Couch wütend die ersten Seiten meines Romans schrieb, bis ich mich nicht mehr halten konnte und völlig bein- und herzbestimmt tanzen musste. Dass am Ende noch aus Sympathie mit uns, die wir uns vor ihm als DJ verneigen müssen, Superpunk und Jens Friebe gespielt wurden, finde ich wirklich ganz berückend. Wirklich.
Die Heimfahrt war der großartige Abschluss dieser so lebendigen Nacht. So lebendig habe ich mich glaube ich nicht einmal bei meiner Geburt gefühlt.
Jens Lekman- Friday Night at the Drive-In Bingo. Der Freund, der rief: "Berlin ist so schön!". Die Leute im Taxi nebenan, die uns an der Ampel anlächelten. Wie mir alle drei im Kollektiv die Haare wuschelten. Wirklich, ich weiß gar nicht, was ich nach drei Stunden Schlaf noch sagen soll. Deshalb hör ich jetzt auf und wähle einen Song als Soundtrack, quasi stellvertretend für all die Songs des Abends.

5 Kommentare:

  1. Ein wirklich schöner Text. Allerdings macht er mich traurig betroffen. Denn eines kann ich Dir unterschreiben: "Aber machen wir uns nichts vor: Wer mit 20 noch nie geküsst hat, der schafft das dann auch nicht mehr aus eigener Initiative." Ich bin jetzt 28 und stelle einfach nur fest, an dieser Situation wird sich NIE etwa ändern. Dafür bin auch schon viel zu abgestumpft und habe das Thema endgültig in die Abstellkammer gelegt.

    Trotzdem freut mich deine Euphorie natürlich...

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  2. Oh, ich wollte nicht betroffen machen. Aber das ist eben echt scheiße. Und ich weiß, dass das jetzt blöd klingt und ich fand es noch vor ein paar Tagen selbst unheimlich blöd, dass mir das jemand gesagt hat, aber "DU DARFST NICHT ABSTUMPFEN! DU MUSST DINGE ZULASSEN! REIZEN VON SITUATIONEN ERLIEGEN!"
    Ich habe das vielleicht etwas polemisch dahin gestellt. Man kann schon die Initiative ergreifen, aber es ist eben noch viel realistischer, dass jemand anderes kommt und einem die Entscheidung abnimmt. Das muss nicht immer positive Konsequenzen haben, aber es hat Konsequenzen und das ist doch ein Anfang, oder?
    Vielen Dank auf jeden Fall für deinen lieben Kommentar und das liken!

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  3. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  4. Ach, mach Dir mal keine Sorgen. Mir kann keiner mehr helfen, da ist schon alles zu spät bei mir. Und polemisch angegriffen gefühlt hab ich mich auch nicht. Ich gefalle mir ganz gut in einer Badewanne voll Selbstmitleid. An meinem sexuellen Vollversagertum lässt sich nichts mehr ändern...

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  5. Naja, dann hoffe ich wenigstens, dass du in der darin nicht ertrinkst, sondern sie als das benutzt, was eine Badewanne, auch eine solche, sein sollte: Ein Ort des Eskapismus vom Tun der Welt, in dem man nichts tun sollte, als lesen, masturbieren, vor sich hin philosophieren. Irgendwann, wenn einem dann kalt wird, oder die Haut schrumpelig, geht man raus, zieht sich an und rein ins Leben!
    (Fremdmotivierte Lebensbejahung, ahoi!)

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