20. September 2010

Pfifferlingssuppe

Ich esse Pfifferlingssuppe und denke an Oma.
Meine Oma hatte nicht wie andere Omas ein Haus im Grünen, sondern eine Altbauwohnung im Kaßberg in Chemnitz mit einem riesigen Garten. Das war ziemlich toll, für mich und meinen Bruder, denn wir wohnten im Heckart-Gebiet in der selben Stadt und dort waren alle Häuser aus Beton und 12-geschossig, Stuck an den Decken gab es höchstens aus Styropor und ein kleiner "Vorgarten", also zwei Blumenbeete neben der Straße, waren das Grünste weit und breit.
Omas Wohnung war dagegen in meiner Erinnerung so groß wie der Tanzsaal eines barocken Schlosses und erfüllte mich ebenso mit Furcht wie mit Entzücken. Wenn ich heute Schlösser besichtige (nein, nicht oft, aber aus denkbaren Gründen Sanscoussi und Schloss Charlottenburg zum Beispiel) und in riesige Pantoffeln fahren muss, um über die Perlmuttböden zu laufen, so ist das auch nicht viel anders als damals, als meine winzigen Füße in Ringelsöckchen in die großen Gästepantoffeln fuhren und über den jahrhundertealten Dielenboden liefen. Die Türgriffe waren golden und mit Löwenköpfen verziert. Den Stuck hatte mein roter Opa in einem Anfall von Wut gegen westliche Dekadenz zwar von den Decken gehackt, aber wenn er neben dem Kachelofen von dem einstmaligen noch größeren Prunk erzählte, genügte mir dies, um mich wie die Thronerbin des Kulturkönigs zu fühlen. Mein Opa war nämlich Musiker und Klubhausleiter und von daher stets Unterstützer meiner künstlerischen Zukunftspläne, an denen sich in den letzten 18 Jahren nicht viel geändert hat.
"Wenn alle Leute hinken, dann gehst auch du richtig! (...) Verdien mit Schauspiel dir dein Brot und dann ab nach Hollywood!" dichtete er mir einst ins Poesiealbum und ich glaube, es verwundert damit nicht, warum ich manchmal unter den Abstürzen meines überlebensgroßen Egos leide.
Im Garten zwischen den Rhododentronbüschen wollte ich immer zusammen mit meinem Bruder und meinen Cousins "one of the boys" sein, aber wie sollte das funktionieren, wo ich mich doch so vor Schmetterlingen ekelte, dass es genügte, mir einen aus Papier hinzuhalten, um mich zu verscheuchen?
Im Herbst gingen unsere Großeltern mit uns in den Wald und sammelten Pilze. Da wir eine Familie von Hypochondern sind, landete die Hälfte davon im Ofen. Aus dem Rest wurde eine Pilzsuppe gekocht und eine solche Suppe habe ich nirgendwo wieder gegessen. Und mich auch selten so gefühlt, so umsorgt, sicher, gemütlich, draußen war Herbst, drinnen war verarmter Sozialistenadel.
Inzwischen hat sich einiges verändert, aber so viel dann doch nicht. Die Pilzsuppe kommt mittlerweile aus dem Geburtstagspäckchen, das mir Oma jährlich schickt. Ich packe es betrunken aus, esse eine Schachtel Katzenzungen am Stück, stecke mir die 20 Euro für mehr Alkohol am nächsten Tag in meinen Geldbeutel. Ich flenne ein bisschen, koche mir die Pfifferlingssuppe aus der Tüte und denke an den schönen Satz, den meine Oma zu meinem Opa sagte, und der doch für uns alle gedacht war, der mich an das realistische, beherzte Durchaltevermögen meiner Familie wieder glauben lässt, in dessen starker Tradition ich stehe:
"Du gaukelst dir da was vor!"
Danke, Oma. Ich steh auf, leg meine Feenflügel ab und werde eine Nebel, kein Glasnebelgeschöpf.

2 Kommentare:

  1. wieder einmal danke für die vielen tollen bilder, die sich da in mein hirn gezaubert haben.

    willst du jetzt mädchennamen deiner mama annehmen?

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  2. Ach, ne zu Ehren von Salinger lass ich Glaß. Eine Nebel bin ich aber trotzdem.
    Dir ist zu danken!

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